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Das Folgende ist entnommen aud dem Buch von George Orwel "1984".
Es ist nicht spannend und damit etwas schwierig zu lesen.
Wer es schafft wird plötzlich viel Parallelen zum heutigen Weltgeschehen entdecken.
Dazu dann auch die Erkenntnis: Dieses Buch wurde Ende der 1940er Jahre geschrieben.

George Orwell (* 25. Juni 1903 in Motihari, Bihar, Britisch-Indien als Eric Arthur Blair; † 21. Januar 1950 in London) war ein englischer Schriftsteller, Essayist und Journalist.

Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus

von
Emmanuel Goldstein

Kapitel I

Unwissenheit ist Stärke

Von Anbeginn der uns bekannten Zeit, ja wahrscheinlich seit dem Ende der Jungsteinzeit gab es auf der Welt drei Arten von Menschen: die Oberen, die Mittleren und die Unteren. Sie wurden auf vielfältige Weise untergliedert, sie trugen unzählige verschiedene Namen, und ihr Zahlenverhältnis sowie ihre Einstellung zueinander variierten von Zeitalter zu Zeitalter; doch die Grundstruktur der Gesellschaft hat sich nie verändert.

Selbst nach enormen Umwälzungen und scheinbar unwiderruflichen Veränderungen hat sich immer wieder das gleiche Muster durchgesetzt, so wie ein Kreisel immer wieder ins Gleichgewicht kommt, wie weit er auch in die eine oder andere Richtung geschoben wird.

Die Ziele dieser Gruppen sind miteinander vollkommen unvereinbar.

Das Ziel Oberen ist es, dort zu bleiben, wo sie sind. Das Ziel der Mittleren ist es, mit dem Oberen den Platz zu tauschen. Das Ziel der Unteren, sofern sie überhaupt ein Ziel haben - denn es ist ein bleibendes Charakteristikum der Unteren, dass sie enorm stark von der Plackerei erdrückt werden und sich deshalb Dingen, die außerhalb ihres Alltagslebens liegen, nur gelegentlich bewusst werden - ist die Abschaffung aller Unterscheidungen und die Errichtung einer Gesellschaft, in der alle Menschen gleich sind.

So wiederholt sich im Laufe der Geschichte immer wieder ein Kampf, der in seinen Grundzügen derselbe ist. Über lange Zeiträume hinweg scheinen die Oberen sicher an der Macht zu sein, aber früher oder später kommt immer ein Moment, in dem sie entweder ihren Glauben an sich selbst oder ihre Fähigkeit, effizient zu regieren, oder beides verlieren.

Dann werden sie von den Mittleren gestürzt, die die Unteren auf ihre Seite ziehen, indem sie ihnen vorgaukeln, sie würden für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen. Sobald sie ihr Ziel erreicht haben, drängen die Mittleren die Unteren in ihre alte Position der Knechtschaft zurück und werden selbst zu den Oberen. Bald darauf spaltet sich eine neue Mittelgruppe von einer der anderen Gruppen oder von beiden ab, und der Kampf beginnt von Neuem.

Von den drei Gruppen gelingt es nur den Unteren nie, auch nur vorübergehend ihre Ziele zu erreichen. Es wäre übertrieben zu sagen, dass es im Laufe der Geschichte keine Fortschritte materieller Art gegeben hat. Sogar heute, in einer Zeit des Niedergangs, geht es dem Durchschnittsmenschen materiell besser als noch vor einigen Jahrhunderten. Aber keine Steigerung des Wohlstands, keine Lockerung der Sitten, keine Reform oder Revolution hat die Gleichheit der Menschen je auch nur einen Millimeter näher gebracht. Vom Gesichtspunkt der Unteren aus hat kein geschichtlicher Wandel jemals viel mehr bedeutet als eine Änderung der Namen ihrer Herren.

Ende des neunzehnten Jahrhunderts war dieses wiederkehrende Muster für viele Beobachter offensichtlich geworden. Daraufhin entstanden Schulen von Denkern, die die Geschichte als zyklischen Prozess interpretierten und behaupteten, die Ungleichheit sei das unveränderliche Gesetz des menschlichen Lebens. Diese Doktrin hatte natürlich immer ihre Anhänger gefunden, aber in der Art und Weise, wie sie jetzt dargelegt wurde, gab es eine bedeutende Veränderung. In der Vergangenheit war die Notwendigkeit einer hierarchischen Gesellschaftsform vor allem die Doktrin der Oberen gewesen.

Sie war von Königen und Aristokraten und von Priestern, Anwälten und dergleichen schmarotzenden Leuten gepredigt worden, und sie war gewöhnlich durch das Versprechen auf Entschädigung in einer imaginären Welt jenseits des Grabes schmackhaft gemacht worden. Die Mitte hatte, solange sie um die Macht kämpfte, immer von Begriffen wie Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit Gebrauch gemacht.

Nun aber begann das Konzept der menschlichen Brüderlichkeit von Menschen angegriffen zu werden, die noch gar nicht an der Macht waren, sondern nur hofften, es bald zu sein.

In der Vergangenheit hatte die Mitte unter dem Banner der Gleichheit Revolutionen durchgeführt und dann eine neue Tyrannei errichtet, sobald die alte gestürzt worden war.

Die neuen Gruppen der Mitte proklamierten ihre Tyrannei im Grunde genommen schon im Voraus. Der Sozialismus, eine Theorie, die im frühen neunzehnten Jahrhundert aufkam und das letzte Glied in einer Gedankenkette war, die bis zu den Sklavenaufständen der Antike zurückreichte, war noch immer tief vom Utopismus vergangener Zeiten infiziert.

Aber in jeder Variante des Sozialismus, die nach dem Jahr 1900 aufkam, wurde das Ziel, Freiheit und Gleichheit zu schaffen, immer offener fallen gelassen. Die neuen Bewegungen, die in der Mitte des Jahrhunderts entstanden, Engsoz in Ozeanien, der Neo-Bolschewismus in Eurasien, der Todeskult, wie er in Ostasien gemeinhin genannt wird, hatten das bewusste Ziel, UNFreiheit und UNGleichheit aufrechtzuerhalten.

Diese neuen Bewegungen gingen natürlich aus den alten Bewegungen hervor und pflegten deren Namen beizubehalten und ihren Ideologien Lippenbekenntnisse zu zollen. Doch all diese Bewegungen hatten es zum Ziel, den Fortschritt aufzuhalten und die Geschichte zu einem bestimmten Zeitpunkt einzufrieren. Das Pendel sollte noch einmal in der bekannten Weise ausschlagen und dann stehen bleiben. Wie üblich sollten die Oberen von den Mittleren verdrängt werden, die damit zu den Oberen werden würden; aber dieses Mal würde es den Oberen durch eine gezielte Strategie gelingen, ihre Position dauerhaft zu behaupten.

Die neuen Doktrinen entstanden zum Teil infolge der Anhäufung historischen Wissens und des zunehmenden Verständnisses für Geschichte, das es vor dem 19. Jahrhundert kaum gegeben hatte. Die zyklische Bewegung der Geschichte war nun nachvollziehbar oder schien es zu sein; und wenn sie nachvollziehbar war, dann war sie auch veränderbar.

Aber die hauptsächliche, zugrunde liegende Ursache war, dass bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Gleichheit der Menschen technisch möglich geworden war. Es war zwar immer noch so, dass die Menschen in ihren angeborenen Fähigkeiten nicht gleich waren und dass Tätigkeiten in einer Weise spezialisiert werden mussten, die einige Einzelpersonen gegenüber anderen begünstigte; aber es bestand keine wirkliche Notwendigkeit mehr für Klassenunterschiede oder für große Unterschiede im Wohlstand.

In früheren Zeiten waren Klassenunterschiede nicht nur unvermeidlich, sondern sogar erwünscht gewesen. Ungleichheit war der Preis der Zivilisation. Mit der Entwicklung der maschinellen Produktion änderte sich jedoch die Sachlage. Auch wenn die Menschen immer noch verschiedene Arten von Arbeit verrichten mussten, war es nicht mehr notwendig, dass sie auf verschiedenen sozialen oder wirtschaftlichen Niveaus lebten.

Deshalb war aus der Sicht der neuen Gruppen, die kurz vor der Machtergreifung standen, die Gleichheit der Menschen kein anzustrebendes Ideal mehr, sondern eine Gefahr, die es abzuwenden galt.

In primitiveren Zeitaltern, als eine gerechte und friedliche Gesellschaft tatsächlich nicht möglich war, war es ziemlich einfach gewesen, daran zu glauben. Die Vorstellung von einem irdischen Paradies, in dem die Menschen in einem Zustand der Brüderlichkeit, ohne Gesetze und ohne harte Arbeit zusammenleben sollten, hatte die menschliche Fantasie seit Tausenden von Jahren beflügelt. Und diese Vision hatte selbst bei den Gruppen, die eigentlich von jeder historischen Veränderung profitierten, einen gewissen Einfluss ausgeübt.

Die Erben der französischen, englischen und amerikanischen Revolution hatten teilweise an ihre eigenen Phrasen über die Menschenrechte, die Redefreiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz und dergleichen geglaubt und zu einem gewissen Grad sogar ihr Verhalten davon bestimmen lassen.

Doch im vierten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts waren alle Hauptströmungen des politischen Denkens autoritär. Das irdische Paradies war genau in dem Moment diskreditiert worden, als es realisierbar wurde.

Jede neue politische Theorie, wie auch immer sie sich nannte, führte zurück zu Hierarchie und Reglementierung. Und im Zuge der allgemeinen Verhärtung der Gesinnung, die um 1930 herum einsetzte, wurden Praktiken, die lange Zeit, in einigen Fällen seit Hunderten von Jahren, aufgegeben worden waren - wie Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, der Einsatz von Kriegsgefangenen als Arbeitssklaven, öffentliche Hinrichtungen, Folter zur Erlangung von Geständnissen, Geiselnahmen und die Deportation ganzer Bevölkerungsgruppen -‚ nicht nur wieder üblich, sondern wurden von Menschen, die sich für aufgeklärt und fortschrittlich hielten, toleriert und sogar verteidigt.

Erst nach einem Jahrzehnt nationaler Kriege, Bürgerkriege, Revolutionen und Gegenrevolutionen in allen Teilen der Welt entstanden Engsoz und seine Rivalen als voll ausgearbeitete politische Theorien. Aber sie waren durch die verschiedenen, allgemein als totalitär bezeichneten Systeme, die zu Beginn des Jahrhunderts aufgetaucht waren, schon angekündigt worden, und die Welt, die aus dem herrschenden Chaos hervorgehen sollte, war in ihren wichtigsten Umrissen schon lange absehbar gewesen.

Welche Art von Menschen diese Welt beherrschen würde, war ebenso offensichtlich gewesen. Die neue Aristokratie setzte sich zum größten Teil aus Bürokraten, Wissenschaftlern, Technikern, Gewerkschaftsfunktionären, Öffentlichkeitsexperten, Soziologen, Lehrern, Journalisten und Berufspolitikern zusammen. Diese Menschen, deren Ursprünge in der angestellten Mittelschicht und der gehobenen Arbeiterklasse lagen, waren von der kargen Welt der Monopolindustrie und der zentralisierten Regierung geprägt und zusammengeführt worden.

Im Vergleich zu ihren Pendants aus früheren Zeiten waren sie weniger habgierig, weniger vom Luxus verlockt, hungriger nach reiner Macht und vor allem bewusster in ihrem Handeln und stärker darauf bedacht, die Opposition zu zerschlagen.

Dieser letzte Unterschied war grundlegend. Im Vergleich zu der heute bestehenden Tyrannei waren alle Tyranneien der Vergangenheit halbherzig und ineffizient. Die herrschenden Gruppen waren immer bis zu einem gewissen Grad von liberalen Ideen infiziert und zufrieden damit gewesen, zahlreiche Dinge unerledigt zu lassen, sich nur um die offensichtlichen Tatsachen zu kümmern, und interessierten sich nicht dafür, was ihre Untertanen dachten.

Selbst die katholische Kirche des Mittelalters war nach modernen Maßstäben tolerant. Das lag zum Teil daran, dass in der Vergangenheit keine Regierung die Macht hatte, ihre Bürger ständig zu überwachen.

Die Erfindung des Buchdrucks erleichterte es jedoch, die öffentliche Meinung zu manipulieren, und der Film und das Radio förderten diesen Prozess weiter. Mit der Entwicklung des Fernsehens und dem technischen Fortschritt, der es ermöglichte, mit demselben Gerät gleichzeitig zu empfangen und zu senden, war das Privatleben zu Ende.

Jeder Bürger, oder zumindest jeder Bürger, der wichtig genug war, um beobachtet zu werden, konnte vierundzwanzig Stunden am Tag den Augen der Polizei und den offiziellen Propagandasendungen ausgesetzt werden, während ihm zugleich alle anderen Kommunikationskanäle versperrt blieben. Zum ersten Mal bestand nun die Möglichkeit, allen Untertanen nicht nur den vollkommenen Gehorsam gegenüber dem Willen des Staates, sondern auch eine vollkommene Meinungsgleichheit in allen Bereichen aufzuzwingen.

Nach der revolutionären Periode der Fünfziger- und Sechzigerjahre gruppierte sich die Gesellschaft wie immer erneut in eine Ober-, eine Mittel- und eine Unterschicht. Doch die neue Oberschicht handelte im Gegensatz zu all ihren Vorläufern nicht instinktiv, sondern wusste, was zur Sicherung ihrer Position nötig war.

Längst hatte man erkannt, dass die einzig sichere Grundlage der Oligarchie der Kollektivismus ist. Wohlstand und Privilegien lassen sich am leichtesten verteidigen, wenn sie Gemeinbesitz sind. Die sogenannte "Abschaffung des Privateigentums", die in der Mitte des Jahrhunderts stattfand, bedeutete faktisch die Konzentration des Eigentums in weitaus weniger Händen als zuvor, allerdings mit dem Unterschied, dass die neuen Eigentümer eine Gruppe und nicht eine Masse von Individuen waren.

Als Einzelperson gehört einem Mitglied der Partei nichts außer seiner unbedeutenden persönlichen Habe. Kollektiv besitzt die Partei alles in Ozeanien, weil sie alles kontrolliert und über die Produkte nach eigenem Gutdünken verfügt.

In den Jahren nach der Revolution konnte sie fast widerstandslos diese beherrschende Position einnehmen, weil der gesamte Prozess als ein Akt der Kollektivierung dargestellt wurde. Es war immer davon ausgegangen worden, dass nach der Enteignung der Kapitalistenklasse der Sozialismus folgen müsse; und die Kapitalisten waren zweifelsohne enteignet worden.

Fabriken, Bergwerke, Land, Häuser, Transportmittel - alles war ihnen weggenommen worden; und da diese Dinge nun kein Privateigentum mehr waren, folgte daraus, dass sie öffentliches Eigentum sein mussten.

Engsoz, der aus der früheren sozialistischen Bewegung hervorging und deren Phraseologie übernahm, hat in der Tat den wichtigsten Punkt des sozialistischen Programms realisiert; mit dem vorhergesehenen und beabsichtigten Ergebnis, dass die wirtschaftliche Ungleichheit zum Dauerzustand gemacht wurde.

Aber die Probleme der Aufrechterhaltung einer hierarchischen Gesellschaft liegen tiefer. Es gibt nur vier Möglichkeiten, wie eine herrschende Gruppe ihre Macht verlieren kann. Entweder wird sie von außen besiegt, oder sie regiert so ineffizient, dass die Massen zum Aufstand angestachelt werden, oder sie duldet das Entstehen einer starken und unzufriedenen Mittelschicht, oder sie verliert ihr Selbstvertrauen und ihre Regierungsbereitschaft.

Diese Ursachen wirken nicht für sich allein, und in der Regel sind alle vier zu einem gewissen Grad vorhanden. Eine herrschende Klasse, die sich gegen sie alle schützen könnte, würde dauerhaft an der Macht bleiben. Letztendlich ist der entscheidende Faktor die mentale Einstellung der herrschenden Klasse selbst.

Nach der Mitte dieses Jahrhunderts war die erste Gefahr faktisch verschwunden. Jede der drei Mächte, die sich heute die Weltteilen, ist praktisch unbesiegbar und könnte nur durch langsame demografische Veränderungen erobert werden, die eine Regierung mit weitreichenden Machtbefugnissen leicht verhindern kann.

Auch die zweite Gefahr ist nur eine theoretische. Die Massen revoltieren nie aus eigenem Antrieb, und sie revoltieren nie, nur weil sie unterdrückt werden. Solange man ihnen jegliche Vergleichsmaßstäbe entzieht, werden sie sich nicht einmal bewusst, dass sie unterdrückt werden.

Die immer wiederkehrenden Wirtschaftskrisen vergangener Zeiten waren völlig unnötig und dürfen jetzt nicht mehr eintreten, aber andere und ebenso große Umwälzungen können und werden stattfinden, ohne politische Folgen zu haben, weil es keine Möglichkeit gibt, Unzufriedenheit zu artikulieren.

Was das Problem der Überproduktion betrifft, das in unserer Gesellschaft seit der Entwicklung der Maschinentechnik latent vorhanden ist, so wird es durch das Mittel der ständigen Kriegsführung gelöst (siehe Kapitel III), das auch dazu dient, die öffentliche Moral auf das erforderliche Mindestmaß zu heben.

Aus der Sicht unserer gegenwärtigen Machthaber bestehen daher die einzigen wirklichen Gefahren in der Abspaltung einer neuen Gruppe fähiger, unterforderter und machthungriger Menschen sowie im Anwachsen des Liberalismus und Skeptizismus in den eigenen Reihen.

Das Problem ist daher sozusagen erzieherischer Natur. Es ist ein Problem der ständigen Formung des Bewusstseins sowohl der leitenden Gruppe als auch der unmittelbar unter ihr stehenden größeren Exekutivgruppe. Das Bewusstsein der Massen muss nur in negativer Weise beeinflusst werden.

Vor diesem Hintergrund könnte man, wenn sie einem nicht schon bekannt wäre, auf die allgemeine Struktur der ozeanischen Gesellschaft schließen. An der Spitze der Pyramide steht der Große Bruder. Der Große Bruder ist unfehlbar und allmächtig. Jeder Erfolg, jede Errungenschaft, jeder Sieg, jede wissenschaftliche Entdeckung, alles Wissen, alle Weisheit, alles Glück, alle Tugenden werden unmittelbar seiner Führung und Inspiration zugeschrieben. Niemand hat den Großen Bruder je gesehen. Er ist ein Gesicht auf den Plakatwänden, eine Stimme aus dem Teleschirm. Wir können einigermaßen sicher sein, dass er niemals sterben wird, und es besteht bereits beträchtliche Ungewissheit darüber, wann er geboren wurde.

Der Große Bruder ist die Gestalt, in der sich die Partei der Welt präsentiert. Seine Funktion besteht darin, als Brennpunkt für Liebe, Angst und Verehrung zu fungieren, Emotionen, die man gegenüber einem Individuum leichter empfindet als gegenüber einer Organisation.

Nach dem Großen Bruder kommt die Innere Partei, deren Mitgliederzahl auf sechs Millionen oder etwas weniger als 2 Prozent der Bevölkerung Ozeaniens begrenzt ist.

Nach der Inneren Partei kommt die Äußere Partei, die, wenn die Innere Partei als das Gehirn des Staates bezeichnet wird, zu Recht mit den Händen verglichen werden kann.

Darunter kommen die stummen Massen, die wir gewöhnlich als "die Prolls" bezeichnen und die vielleicht 85 Prozent der Bevölkerung ausmachen, Im Sinne unserer früheren Klassifizierung sind die Prolls die Unteren, denn die Sklavenbevölkerung der äquatorialen Länder, die ständig von Eroberer zu Eroberer wechselt, ist kein dauerhafter oder notwendiger Teil der Struktur.

Im Prinzip ist die Zugehörigkeit zu diesen drei Gruppen nicht vererbbar. Das Kind von Eltern der Inneren Partei wird theoretisch nicht in die Innere Partei hineingeboren. Die Aufnahme in einen der beiden Zweige der Partei erfolgt durch eine Prüfung, die im Alter von sechzehn Jahren abgelegt wird. Es gibt auch keine Rassendiskriminierung oder eine eindeutige Vorherrschaft einer Provinz über eine andere.

Juden, Farbige und Südamerikaner von rein indianischem Blut sind in den höchsten Rängen der Partei zu finden, und die Verwalter eines Gebietes werden immer aus den Bewohnern dieses Gebietes ausgewählt.

In keinem Teil Ozeaniens haben die Einwohner das Gefühl, eine Kolonialbevölkerung zu sein, die von einer weit entfernten Hauptstadt aus regiert wird.

Ozeanien hat keine Hauptstadt, und sein nominelles Oberhaupt ist eine Person, deren Aufenthaltsort niemand kennt. Abgesehen davon, dass Englisch ihre Lingua franca und Neusprech ihre Amtssprache ist, ist es in keiner Weise zentralisiert.

Seine Herrscher werden nicht durch Blutsbande zusammengehalten, sondern durch das Festhalten an einer gemeinsamen Doktrin. Es stimmt, dass unsere Gesellschaft einer starken, ja sogar sehr starken Strukturierung unterliegt, die auf den ersten Blick nach den Erblinien ausgerichtet zu sein scheint.

Zwischen den verschiedenen Gruppen gibt es weit weniger Hin und Her als im Kapitalismus oder sogar im vorindustriellen Zeitalter. Zwischen den beiden Zweigen der Partei findet ein gewisser Austausch statt, aber nur so viel, um zu gewährleisten, dass Schwächlinge aus der Inneren Partei ausgeschlossen werden und ehrgeizige Mitglieder der Äußeren Partei dadurch unschädlich gemacht werden, dass man sie aufsteigen lässt.

In der Praxis ist es Proletariern nicht erlaubt, in die Partei einzutreten. Die Begabtesten unter ihnen, die möglicherweise zu Keimzellen der Unzufriedenheit werden könnten, werden einfach von der Gedankenpolizei aufgespürt und eliminiert.

Doch dieser Zustand ist nicht unbedingt von Dauer, noch ist er ein Prinzip. Die Partei ist keine Klasse im herkömmlichen Sinne. Sie zielt nicht darauf ab, die Macht an ihre eigenen Kinder zu übertragen; und wenn es keine andere Möglichkeit gäbe, die fähigsten Menschen an der Spitze zu halten, wäre sie durchaus bereit, eine ganz neue Generation aus den Reihen des Proletariats zu rekrutieren.

In den entscheidenden Jahren trug die Tatsache, dass die Partei kein erbliches Gefüge war, in hohem Maße zur Neutralisierung der Opposition bei. Ein Sozialist der alten Schule, der für den Kampf gegen das sogenannte "Klassenprivileg" ausgebildet worden war, ging davon aus, dass etwas, was nicht erblich ist, auch nicht dauerhaft sein kann. Er begriff weder, dass die Kontinuität einer Oligarchie keine leibliche zu sein braucht, noch hielt er sich mit der Überlegung auf, dass erbliche Aristokratien schon immer kurzlebig waren, während adoptive Organisationen wie die katholische Kirche manchmal Hunderte oder Tausende von Jahren überdauerten.

Das Wesentliche der oligarchischen Herrschaft ist nicht die Vererbung vom Vater auf den Sohn, sondern das Fortbestehen einer bestimmten Weltanschauung und einer bestimmten Lebensweise, die den Lebenden von den Toten auferlegt wird.

Eine herrschende Gruppe ist so lange eine herrschende Gruppe, wie sie ihre Nachfolger bestimmen kann. Der Partei geht es nicht um die Aufrechterhaltung ihrer Blutlinie, sondern um die Fortdauer der Partei selbst. WER die Macht ausübt, ist nicht wichtig, vorausgesetzt, dass die hierarchische Struktur immer dieselbe bleibt.

Alle für unsere Zeit charakteristischen Überzeugungen, Gewohnheiten, Vorlieben, Emotionen, Geisteshaltungen sind in Wirklichkeit darauf ausgerichtet, die Mystik der Partei aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass die wahre Natur der heutigen Gesellschaft erkannt wird. Eine physische Rebellion oder vorbereitende Schritte zur Rebellion sind gegenwärtig nicht möglich.

Von den Proletariern ist nichts zu befürchten. Sich selbst überlassen, werden sie von Generation zu Generation und von Jahrhundert zu Jahrhundert weiterarbeiten, sich fortpflanzen und sterben, nicht nur ohne jeden Drang zur Rebellion, sondern auch ohne jemals zu begreifen, dass die Welt ganz anders sein könnte, als sie ist. Sie könnten nur dann gefährlich werden, wenn der Fortschritt der Industrietechnik es erforderlich machen würde, ihnen eine bessere Bildung zukommen zu lassen; aber da militärische und wirtschaftliche Rivalität keine Rolle mehr spielen, sinkt das Bildungsniveau der Bevölkerung sogar. Welche Ansichten die Massen vertreten oder nicht vertreten, wird als belanglos betrachtet. Man kann ihnen intellektuelle Freiheit gewähren, weil sie keinen Intellekt haben. Bei einem Parteimitglied hingegen kann nicht einmal die geringste Meinungsabweichung in der unbedeutendsten Frage toleriert werden.

Ein Parteimitglied lebt von der Geburt bis zum Tod unter den Augen der Gedankenpolizei. Selbst wenn es allein ist, kann es nie sicher sein, dass es wirklich allein ist. Wo auch immer es sein mag, schlafend oder wach, arbeitend oder sich ausruhend, im Bad oder im Bett, es kann ohne Vorwarnung und ohne zu wissen, dass es beobachtet wird, überwacht werden. Nichts, was es tut, ist gleichgültig. Seine Freundschaften, seine Freizeitaktivitäten, sein Verhalten gegenüber seiner Frau und seinen Kindern, der Ausdruck seines Gesichts, wenn es allein ist, die Worte, die es im Schlaf murmelt, sogar die charakteristischen Bewegungen seines Körpers werden genauestens unter die Lupe genommen. Nicht nur jedes tatsächliche Vergehen, sondern jede noch so kleine Exzentrizität, jede Änderung der Gewohnheiten, jede nervöse Eigenart, die möglicherweise das Symptom eines inneren Kampfes sein könnte, wird mit garantierter Sicherheit aufgedeckt.

Ein Parteimitglied hat in jeglicher Beziehung keinerlei Entscheidungsfreiheit. Andererseits ist sein Handeln weder durch ein Gesetz noch durch einen klar formulierten Verhaltenskodex geregelt.

In Ozeanien gibt es kein Gesetz. Gedanken und Taten, die, wenn sie entdeckt werden, den sicheren Tod bedeuten, sind nicht formell verboten, und die endlosen Säuberungsaktionen, Verhaftungen, Folterungen, Einkerkerungen und Vaporisierungen werden nicht als Strafe für tatsächlich begangene Verbrechen verhängt, sondern dienen lediglich der Auslöschung von Personen, die vielleicht irgendwann in der Zukunft einmal ein Verbrechen begehen könnten.

Von einem Parteimitglied wird nicht nur verlangt, dass es die richtigen Ansichten, sondern dass es auch die richtigen Instinkte hat. Viele der von ihm geforderten Überzeugungen und Ansichten werden nie deutlich formuliert und könnten gar nicht formuliert werden, ohne die Widersprüche offenzulegen, die dem Engsoz innewohnen.

Wenn jemand ein Mensch ist, der von Natur aus orthodox ist (in Neusprech ein GUTDENKER), wird er unter allen Umständen und ohne darüber nachzudenken wissen, was die wahre Überzeugung oder die wünschenswerte Emotion ist.

Aber auf alle Fälle macht ihn ein ausgeklügeltes mentales Training, das er in seiner Kindheit durchlaufen hat und das sich um die Neusprech-Wörter STRAFSTOP, SCHWARZWEISS und ZWIE-DENK dreht, unwillig und unfähig, zu intensiv über irgendein Thema nachdenken.

Von einem Parteimitglied wird erwartet, dass es keine privaten Gefühle hat und dass sein Enthusiasmus nie nachlässt. Es wird von ihm erwartet, dass es in einem ständigen Rausch des Hasses gegen ausländische Feinde und interne Verräter lebt, über Siege jubelt und voller Demut vor der Macht und Weisheit der Partei ist.

Die durch sein karges, unbefriedigendes Leben hervorgerufene Unzufriedenheit wird durch Vorrichtungen wie den Zwei-Minuten-Hass gezielt nach außen gelenkt und zerstreut, und die Überlegungen, die möglicherweise zu einer skeptischen oder rebellischen Haltung führen könnten, werden durch seine früh erworbene innere Disziplin bereits im Voraus abgetötet.

Die erste und einfachste Stufe in dieser Disziplin, die selbst kleinen Kindern beigebracht werden kann, heißt in Neusprech STRAFSTOP. STRAFSTOP bezeichnet die Fähigkeit, an der Schwelle jedes gefährlichen Gedankens instinktiv haltzumachen. Dazu gehört die Eigenschaft, Analogien nicht zu begreifen, logische Fehler nicht zu erkennen, die einfachsten Argumente misszuverstehen, wenn sie Engsoz feindlich sind, und von jedem Gedankengang, der in eine ketzerische Richtung führen könnte, gelangweilt oder abgestoßen zu werden.

STRAFSTOP bedeutet, kurz gesagt, schützende Dummheit. Aber Dummheit allein reicht nicht. Im Gegenteil, umfassende Orthodoxie verlangt eine Kontrolle über die eigenen Denkvorgänge, die so vollständig ist wie die eines Schlangenmenschen über seinen Körper.

Die ozeanische Gesellschaft basiert letztlich auf dem Glauben, dass der Große Bruder allmächtig und die Partei unfehlbar ist.

Da aber in Wirklichkeit weder der Große Bruder allmächtig noch die Partei unfehlbar ist, müssen Tatsachen unermüdlich, von einem Moment auf den anderen, ganz flexibel zurechtgebogen werden. Das Schlüsselwort lautet hier SCHWARZWEISS. Wie so viele Neusprech-Wörter hat auch dieses Wort zwei einander widersprechende Bedeutungen. Angewandt auf einen Gegner bedeutet es die Gewohnheit, im Widerspruch zu den offenkundigen Tatsachen unverschämt zu behaupten, schwarz sei weiß.

Auf ein Parteimitglied angewandt bedeutet es die loyale Bereitschaft zu sagen, schwarz sei weiß, wenn die Parteidisziplin dies verlangt. Aber es bedeutet auch die Fähigkeit zu GLAUBEN, dass schwarz weiß ist, und mehr noch zu WISSEN, dass schwarz weiß ist, und zu vergessen, dass man jemals das Gegenteil geglaubt hat.

Dies erfordert eine ständige Veränderung der Vergangenheit, die durch das Denksystem ermöglicht wird, das wirklich alles andere umfasst und das in Neusprech als ZWIEDENK bekannt ist.

Die Veränderung der Vergangenheit ist aus zwei Gründen notwendig, von denen einer nebensächlich und sozusagen vorsorglicher Natur ist. Der nebensächliche Grund besteht darin, dass das Parteimitglied, ähnlich wie der Proletarier, die heutigen Lebensbedingungen zum Teil deshalb duldet, weil es keine Vergleichsmaßstäbe hat.
Es muss von der Vergangenheit ebenso wie vom Ausland abgeschnitten sein, weil es unbedingt glauben muss, dass es bessergestellt ist als seine Vorfahren und dass das Durchschnittsniveau des materiellen Wohlstands ständig steigt.

Aber der bei Weitem wichtigere Grund für die Anpassung der Vergangenheit ist die Notwendigkeit, die Unfehlbarkeit der Partei zu gewährleisten. Es geht nicht nur darum, dass Reden, Statistiken und Unterlagen aller Art ständig auf den neuesten Stand gebracht werden müssen, um zu zeigen, dass die Vorhersagen der Partei in allen Fällen richtig waren. Es geht auch darum, dass keine Änderung der Doktrin oder der politischen Ausrichtung jemals zugelassen werden kann.

Denn seine Meinung oder gar seine Politik zu ändern, ist ein Eingeständnis der Schwäche. Wenn zum Beispiel Eurasien oder Ostasien (welches davon, ist egal) heute der Feind ist, dann muss dieses Land schon immer der Feind gewesen sein. Und wenn die Fakten etwas anderes sagen, dann müssen die Fakten geändert werden. So wird die Geschichte ständig neu geschrieben.

Diese alltägliche Verfälschung der Vergangenheit, die vom Ministerium für Wahrheit durchgeführt wird, ist für die Stabilität des Regimes ebenso notwendig wie die Repressions- und Spionagearbeit des Ministeriums für Liebe.

Die Veränderlichkeit der Vergangenheit ist der zentrale Grundsatz des Engsoz. Vergangene Ereignisse, so wird argumentiert, haben keine objektive Existenz, sondern überleben nur in schriftlichen Aufzeichnungen und in der menschlichen Erinnerung. Die Vergangenheit ist das, worin die Aufzeichnungen und die Erinnerungen übereinstimmen.

Und da die Partei die volle Kontrolle über alle Aufzeichnungen und ebenso die volle Kontrolle über das Denken ihrer Mitglieder hat, folgt daraus, dass die Vergangenheit alles das ist, was die Partei daraus macht. Daraus folgt auch, dass die Vergangenheit zwar veränderbar ist, aber nie in einem konkreten Fall verändert wurde. Denn wenn sie in einer im Augenblick benötigten Form neu erschaffen wurde, dann IST diese neue Version die Vergangenheit, und es kann niemals eine andere Vergangenheit gegeben haben. Dies gilt auch dann, wenn, wie so oft, dasselbe Ereignis im Laufe eines Jahres mehrmals bis zur Unkenntlichkeit verändert werden muss.

Die Partei ist zu allen Zeiten im Besitz der absoluten Wahrheit, und das Absolute kann natürlich nie anders gewesen sein als jetzt. Es wird sich zeigen, dass die Kontrolle der Vergangenheit vor allem von der Schulung des Gedächtnisses abhängt. Sicherzustellen, dass alle schriftlichen Aufzeichnungen mit der gegenwärtigen Orthodoxie übereinstimmen, ist ein rein mechanischer Akt. Es ist aber auch notwendig, sich zu ERINNERN, dass die Ereignisse in der gewünschten Form stattgefunden haben. Und wenn es notwendig ist, die eigenen Erinnerungen umzugestalten oder schriftliche Aufzeichnungen zu manipulieren, dann ist es in der Folge notwendig zu VERGESSEN, dass man dies getan hat.

Der hierzu erforderliche Trick kann wie jede andere mentale Technik erlernt werden. Die Mehrheit der Parteimitglieder erlernt diesen Trick; auf jeden Fall tun dies alle, die sowohl intelligent als auch orthodox sind. In der Altsprache nennt man das ganz offen "Realitätskontrolle". In Neusprech heißt es ZWIEDENK, obwohl ZWIEDENK noch viel mehr umfasst. ZWIEDENK bedeutet die Fähigkeit, zwei widersprüchliche Überzeugungen gleichzeitig im Kopf zu haben und beide zu akzeptieren.

Der Partei-Intellektuelle weiß, in welche Richtung seine Erinnerungen geändert werden müssen; er weiß demnach, dass er mit der Wirklichkeit jongliert; aber durch die Ausübung von ZWIEDENK überzeugt er sich selbst davon, dass die Wirklichkeit nicht verletzt wird. Der Vorgang muss bewusst erfolgen, sonst würde er nicht mit ausreichender Präzision durchgeführt, aber er muss auch unbewusst erfolgen, weil er sonst ein Gefühl der Lüge und damit der Schuld mit sich bringen würde.

ZWIEDENK ist der Kern von Engsoz, da der Handlungsschwerpunkt der Partei darin besteht, bewusste Täuschung zu betreiben und gleichzeitig standhaft an ihrer Zweckbestimmung festzuhalten, die mit absoluter Rechtschaffenheit einhergeht.

Bewusste Lügen zu erzählen, während man ehrlich an sie glaubt, jede unbequem gewordene Tatsache zu vergessen und sie dann, wenn es wieder notwendig wird, so lange wie nötig aus der Vergessenheit zurückzuholen, die Existenz der objektiven Realität zu leugnen und dabei die ganze Zeit die Realität zu berücksichtigen, die man leugnet - all dies ist unabdingbar notwendig.

Selbst beim Gebrauch des Wortes ZWIEDENK ist es notwendig, ZWIEDENK anzuwenden. Denn durch den Gebrauch des Wortes gibt man zu, dass man die Realität manipuliert; durch einen erneuten Akt des ZWIEDENKENS löscht man dieses Wissen aus; und so weiter und so fort, wobei die Lüge der Wahrheit immer einen Schrift voraus ist. Letztendlich war die Partei durch ZWIEDENK dazu in der Lage - und wird es nach allem, was wir wissen, noch Tausende von Jahren sein -‚ den Lauf der Geschichte aufzuhalten.

Alle früheren Oligarchien haben ihre Macht verloren, weil sie entweder erstarrt sind oder weil sie weich geworden sind. Entweder wurden sie dumm und arrogant, passten sich nicht an die sich verändernden Umstände an und wurden deswegen gestürzt; oder sie wurden liberal und feige, machten Zugeständnisse, wo sie Gewalt hätten anwenden müssen, und wurden aus diesem Grund gestürzt. Sie stürzten somit entweder durch Bewusstheit oder durch Unbewusstheit.

Es ist der Verdienst der Partei, ein Denksystem hervorgebracht zu haben, in dem beide Zustände gleichzeitig existieren können. Auf keiner anderen intellektuellen Grundlage hätte die Herrschaft der Partei auf Dauer erhalten werden können. Wenn man herrschen und in Zukunft weiterhin herrschen will, muss man in der Lage sein, den Realitätssinn zu verrücken. Denn das Geheimnis des Herrschens liegt darin, den Glauben an die eigene Unfehlbarkeit mit der Fähigkeit zu verbinden, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.

Es bedarf wohl kaum einer Erwähnung, dass die subtilsten Anwender von ZWIEDENK diejenigen sind, die ZWIEDENK erfunden haben und wissen, dass es sich um ein gewaltiges System des geistigen Betrugs handelt.

In unserer Gesellschaft sind diejenigen, die am besten wissen, was vor sich geht, auch diejenigen, die am weitesten davon entfernt sind, die Welt so zu sehen, wie sie tatsächlich ist. Im Allgemeinen gilt: je größer das Verständnis, desto größer die Täuschung; je intelligenter, desto weniger vernünftig.

Ein deutliches Beispiel dafür ist die Tatsache, dass die Kriegshysterie an Intensität zunimmt, je höher jemand auf der gesellschaftlichen Leiter klettert. Diejenigen, deren Einstellung zum Krieg am vernünftigsten ist, sind die unterworfenen Bewohner der umstrittenen Gebiete. Für diese Menschen ist der Krieg einfach ein andauerndes Unglück, das wie eine Flutwelle über sie hereinbricht. Welche Seite gewinnt, ist ihnen völlig egal. Sie sind sich bewusst, dass ein Wechsel der Oberherrschaft lediglich bedeutet, dass sie die gleiche Arbeit wie bisher für neue Herren leisten müssen, die sie genauso behandeln wie die alten. Die etwas begünstigteren Arbeiter, die wir "die Prolls" nennen, sind sich des Krieges nur gelegentlich bewusst. Wenn es erforderlich ist, kann man sie in Angst- und Hassrasereien treiben, aber wenn man sie sich selbst überlässt, sind sie imstande, für lange Zeit zu vergessen, dass Krieg herrscht.

Die wahre Kriegsbegeisterung ist in den Reihen der Partei und vor allem der Inneren Partei zu finden. An die Eroberung der Welt glauben am festesten diejenigen, die wissen, dass sie unmöglich ist. Diese eigentümliche Verknüpfung von Gegensätzen - Wissen mit Unwissenheit, Zynismus mit Fanatismus - ist eines der Hauptmerkmale der ozeanischen Gesellschaft. Die offizielle Ideologie ist selbst dort reich an Widersprüchen, wo keine praktische Notwendigkeit dazu besteht.

So verwirft und verunglimpft die Partei jeden Grundsatz, für den die sozialistische Bewegung ursprünglich eintrat, und tut dies im Namen des Sozialismus. Sie predigt eine seit Jahrhunderten beispiellose Verachtung der Arbeiterklasse und kleidet ihre Mitglieder in eine Uniform, die einst für Arbeiter charakteristisch war und aus diesem Grund eingeführt wurde. Sie untergräbt systematisch die Solidarität der Familie und benennt ihren Führer mit einem Namen, der ein unmittelbarer Appell an die Familienloyalität ist.

Sogar die Namen der vier Ministerien, von denen wir regiert werden, zeigen eine gewisse Unverfrorenheit in ihrer bewussten Umkehrung der Tatsachen. Das Ministerium für Frieden beschäftigt sich mit Krieg, das Ministerium für Wahrheit mit Lügen, das Ministerium für Liebe mit Folter und das Ministerium für Fülle mit dem Hungertod.

Diese Widersprüche sind weder zufällig, noch resultieren sie aus gewöhnlicher Heuchelei; sie sind vielmehr bewusste Übungen in ZWIEDENK. Denn nur dadurch, dass Widersprüche miteinander in Einklang gebracht werden, kann die Macht auf unbegrenzte Zeit erhalten bleiben. Auf keine andere Weise konnte der alte Kreislauf durchbrochen werden. Wenn die Gleichheit der Menschen für immer vermieden werden soll - wenn die Oberen, wie wir sie genannt haben, dauerhaft ihre Stellung behalten sollen -‚ dann muss der vorherrschende Geisteszustand kontrollierter Wahnsinn sein.

Aber es gibt eine Frage, die wir bis zu diesem Augenblick fast unbeachtet gelassen haben. Sie lautet: WARUM soll die Gleichheit der Menschen verhindert werden? Angenommen, die Mechanismen des Verfahrens wurden richtig beschrieben, was ist dann das Motiv für diese gewaltigen, genau geplanten Bemühungen, die Geschichte zu einem bestimmten Zeitpunkt einzufrieren?

Hier kommen wir zum Kern des Geheimnisses. Wie wir gesehen haben, hängt die Mystik der Partei, und vor allem der Inneren Partei, von ZWIEDENK ab. Doch noch tiefer liegt das ursprüngliche Motiv, der nie infrage gestellte Antrieb, der zuerst zur Machtergreifung führte und erst danach ZWIEDENK, die Gedankenpolizei, die dauerhafte Kriegsführung und all das andere notwendige Drum und Dran hervorbrachte. Dieses Motiv besteht in Wahrheit darin…

Kapitel III

Krieg ist Frieden

Die Aufspaltung der Welt in drei große Superstaaten war ein Ereignis, das bereits vor der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts vorhersehbar war und auch tatsächlich vorhergesehen werden konnte. Mit der Vereinnahmung Europas durch Russland und des Britischen Empires durch die Vereinigten Staaten waren zwei der drei heute bestehenden Mächte, Eurasien und Ozeanien, bereits in ihrer Entstehung begriffen. Die dritte, Ostasien, entstand als eigenständige Einheit erst nach einem weiteren Jahrzehnt verworrener Kämpfe.

Die Grenzen zwischen den drei Superstaaten sind an einigen Orten willkürlich, an anderen schwanken sie je nach Kriegsgeschehen, aber im Allgemeinen folgen sie geografischen Gegebenheiten.
Eurasien umfasst den gesamten nördlichen Teil der europäischen und asiatischen Landmasse, von Portugal bis zur Beringstraße. Ozeanien umfasst den amerikanischen Kontinent, die atlantischen Inseln einschließlich der Britischen Inseln, Australasien und den südlichen Teil Afrikas.
Ostasien, kleiner als die anderen und mit einer weniger klaren Westgrenze, umfasst China und die Länder südlich davon, die japanischen Inseln und einen großen, aber veränderlichen Teil der Mandschurei, der Mongolei und Tibets.

In der einen oder anderen Kombination befinden sich diese drei Superstaaten ständig im Krieg, und das seit fünfundzwanzig Jahren. Krieg ist jedoch nicht mehr der verzweifelte Vernichtungskampf wie in den Anfangsjahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist eine Kriegsführung mit begrenzten Zielen zwischen Opponenten, die nicht in der Lage sind, einander zu vernichten, die keinen materiellen Kriegsgrund haben und die nicht durch einen echten ideologischen Unterschied gespalten sind. Das soll nicht etwa heißen, dass die Kriegsführung oder die vorherrschende Einstellung zum Krieg weniger blutrünstig oder ritterlicher geworden wäre. Im Gegenteil, die Kriegshysterie ist kontinuierlich und in allen Ländern verbreitet, und Handlungen wie Vergewaltigungen, Plünderungen, das Abschlachten von Kindern, die Versklavung ganzer Bevölkerungen und Repressalien gegen Gefangene, die sogar das Sieden und Verbrennen bei lebendigem Leib einschließen, werden als normal und, wenn sie von der eigenen Seite und nicht vom Feind begangen werden, als verdienstvoll angesehen.

Doch in einem physischen Sinne betrifft der Krieg nur eine sehr kleine Anzahl von Menschen, meist hoch ausgebildete Spezialisten, und verursacht vergleichsweise wenig Opfer. Die Kampfhandlungen finden, wenn es überhaupt welche gibt, an den unklaren Grenzen statt, deren Verlauf der Durchschnittsmensch nur erahnen kann, oder im Bereich der Schwimmenden Festungen, die strategische Punkte auf den Seewegen bewachen.

In den Zentren der Zivilisation bedeutet Krieg nicht mehr als den ständigen Mangel an Konsumgütern und den gelegentlichen Einschlag einer Raketenbombe, der vielleicht einige wenige Todesopfer zur Folge hat. Der Krieg hat in der Tat seinen Charakter verändert. Genauer gesagt haben sich die Gründe, aus denen Krieg geführt wird, in der Reihenfolge ihrer Bedeutung geändert. Motive, die in den großen Kriegen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts bereits in geringem Umfang vorhanden waren, sind nun dominierend geworden und werden bewusst anerkannt und verfolgt.

Um die Natur des gegenwärtigen Krieges zu verstehen - denn trotz der alle paar Jahre stattfindenden Umgruppierung ist es immer derselbe Krieg - muss man zunächst einmal erkennen, dass er unmöglich entschieden werden kann. Keiner der drei Superstaaten könnte, auch nicht durch einen Zusammenschluss der beiden anderen, endgültig besiegt werden. Dafür sind sie erstens zu ausgeglichen und ihre natürlichen Verteidigungsmittel zu gewaltig.
Eurasien wird durch seine riesigen Landmassen geschützt, Ozeanien durch die Weite des Atlantiks und des Pazifiks, Ostasien durch die Fruchtbarkeit und den Arbeitseifer seiner Bewohner.
Zweitens gibt es in materieller Hinsicht nichts mehr, um das man kämpfen könnte. Mit der Etablierung in sich geschlossener Volkswirtschaften, in denen Produktion und Konsum aufeinander abgestimmt sind, hat das Gerangel um Märkte, das eine Hauptursache für frühere Kriege war, ein Ende, und der Wettstreit um Rohstoffe ist keine Existenzfrage mehr.

Auf jeden Fall ist jeder der drei Superstaaten so groß, dass fast alle benötigten Materialien innerhalb der eigenen Grenzen beschafft werden können.

Sofern der Krieg einen direkten wirtschaftlichen Zweck hat, ist es ein Krieg um Arbeitskräfte. Zwischen den Grenzen der Superstaaten, und nicht im ständigen Besitz eines von ihnen, liegt ein annähernd quadratisches Gebiet mit seinen Ecken Tanger, Brazzaville, Darwin und Hongkong, in dem etwa ein Fünftel der Erdbevölkerung lebt. Um den Besitz dieser dicht besiedelten Regionen und den der nördlichen Eiszone kämpfen die drei Mächte ständig. In der Praxis kontrolliert niemals eine einzige Macht das gesamte umstrittene Gebiet. Teile davon wechseln ständig den Besitzer, und die Chance, dieses oder jenes Gebietsteil durch einen plötzlichen verräterischen Schlag zu erobern, ist der Grund für die endlosen Bündniswechsel.

Alle umstrittenen Gebiete enthalten wertvolle Mineralien, und einige von ihnen sind reich an wichtigen pflanzlichen Produkten wie Kautschuk, der in kälteren Klimazonen mit vergleichsweise teuren Methoden synthetisch hergestellt werden muss. Vor allem aber besitzen sie ein unerschöpfliches Reservoir an billigen Arbeitskräften. Welche Macht auch immer das äquatoriale Afrika oder die Länder des Nahen Ostens oder Südindiens oder den indonesischen Archipel kontrolliert, hat damit auch Dutzende oder Hunderte von Millionen schlecht bezahlter und hart arbeitender Kulis zur Verfügung.

Die Bewohner dieser Gebiete, die mehr oder weniger offen auf den Status von Sklaven reduziert werden, gehen ständig von einem Eroberer in den Besitz des anderen Eroberers über und werden ebenso wie Kohle oder Öl in dem Wettlauf ausgebeutet, um mehr Waffen zu produzieren, mehr Territorien zu besetzen, die Kontrolle über mehr Arbeitskräfte zu haben - eine Liste, die sich endlos fortsetzen ließe.

Dabei ist zu beachten, dass die Kämpfe nie wirklich über die Grenzlinien dieser umstrittenen Gebiete hinausgehen. Die Grenzen Eurasiens verlaufen schwankend zwischen dem Kongobecken und der Nordküste des Mittelmeers; die Inseln im Indischen Ozean und im Pazifik werden ständig von Ozeanien oder Ostasien erobert und zurückerobert; in der Mongolei ist die Grenzlinie zwischen Eurasien und Ostasien nie stabil; um den Pol herum beanspruchen alle drei Mächte riesige Gebiete, die faktisch aber weitgehend unbewohnt und unerforscht sind; doch das Machtgleichgewicht bleibt immer halbwegs ausgewogen, und das Territorium, das das Kernland eines jeden Superstaates bildet, bleibt immer unangetastet.

Zudem ist die Arbeitskraft der ausgebeuteten Völker rund um den Äquator für die Weltwirtschaft nicht wirklich notwendig. Sie tragen nichts zum Wohlstand der Welt bei, da alles, was sie produzieren, für Kriegszwecke verwendet wird. Und das Ziel der Kriegsführung besteht immer darin, in einer besseren Position zu sein, um einen weiteren Krieg führen zu können.

Durch ihre Arbeit ermöglichen es die versklavten Bevölkerungen, das Tempo der ständigen Kriegsführung zu beschleunigen. Gäbe es sie aber nicht, wären die Struktur der Weltgesellschaft und der Prozess, durch den sie sich selbst erhält, nicht wesentlich anders.

Das vorrangige Ziel der modernen Kriegsführung (gemäß der Prinzipien des ZWIEDENKS wird dieses Ziel von den lenkenden Gehirnen der Inneren Partei gleichzeitig anerkannt und nicht anerkannt) besteht darin, die maschinellen Erzeugnisse aufzubrauchen, ohne den allgemeinen Lebensstandard zu erhöhen.

Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts ist das Problem, was mit dem Überschuss an Konsumgütern geschehen soll, in der Industriegesellschaft latent vorhanden. Gegenwärtig, wo nur wenige Menschen überhaupt genug zu essen haben, ist dieses Problem offensichtlich nicht dringlich und wäre es vielleicht auch nicht geworden, wenn keine künstlichen Zerstörungsprozesse am Werk gewesen wären.

Die Welt von heute ist ein karger, ausgehungerter, heruntergekommener Ort im Vergleich zu der Welt, die vor 1914 existierte, und noch mehr, wenn man sie mit der imaginären Zukunft vergleicht, die die Menschen jener Zeit erwarteten.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war die Vision einer zukünftigen, unglaublich reichen, über Muße verfügenden, geordneten und wirtschaftlich effizienten Gesellschaft - einer glitzernden, antiseptischen Welt aus Glas und Stahl und schneeweißem Beton - Teil des Bewusstseins fast aller gebildeten Menschen.

Wissenschaft und Technik entwickelten sich in einem ungeheuren Tempo, und es schien naheliegend, davon auszugehen, dass die Entwicklung auch weiterhin stattfinden würde. Dies scheiterte zum Teil aufgrund der Verarmung, die durch eine lange Reihe von Kriegen und Revolutionen verursacht wurde, zum Teil daran, dass der wissenschaftliche und technische Fortschritt von der empirischen Denkgewohnheit abhing, die in einer streng reglementierten Gesellschaft nicht überleben konnte.

Im Gesamten betrachtet ist die Welt heute primitiver als vor fünfzig Jahren. Auf bestimmten rückständigen Gebieten wurden Fortschritte erzielt, zudem wurden verschiedene Geräte entwickelt, die immer in irgendeiner Weise mit der Kriegsführung und der Polizeispionage zusammenhingen, aber Experiment und Erfindung sind weitgehend zum Erliegen gekommen, und die Verwüstungen des Atomkriegs der Fünfzigerjahre sind nie vollständig behoben worden.

Dennoch sind die Gefahren, die von der Technik ausgehen, immer noch vorhanden. Von dem Moment an, als die Maschine zum ersten Mal in Erscheinung trat, war allen denkenden Menschen klar, dass die Notwendigkeit menschlicher Schinderei und damit in hohem Maße auch die Notwendigkeit menschlicher Ungleichheit verschwunden war.

Würde die Maschine bewusst zu diesem Zweck eingesetzt, könnten Hunger, Überarbeitung, Schmutz, Analphabetentum und Krankheiten innerhalb weniger Generationen beseitigt werden. Und in der Tat hob die Maschine, ohne zu einem solchen Zweck eingesetzt worden zu sein, sondern durch eine Art automatischen Prozess - da ein entsprechender Überfluss produziert wurde, der unausweichlich verteilt werden musste -‚ über einen Zeitraum von etwa fünfzig Jahren am Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts den Lebensstandard des Durchschnittsmenschen sehr beträchtlich.

Aber es war auch klar, dass ein allgemein wachsender Wohlstand die Fortdauer einer hierarchischen Gesellschaft bedrohte - in gewisser Weise also ihren Untergang bedeutete.

In einer Welt, in der alle nur wenige Stunden arbeiten mussten, genug zu essen hatten, in einem Haus mit Bad und Kühlschrank lebten und ein Auto oder sogar ein Flugzeug besaßen, wäre die offensichtlichste und vielleicht wichtigste Form der Ungleichheit bereits verschwunden.

Würde Wohlstand erst einmal Allgemeingut, würde er keinen Unterschied mehr machen. Es war zweifellos möglich, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der der WOHLSTAND im Sinne von persönlichem Besitz und Luxus gleichmäßig verteilt war, während die MACHT in den Händen einer kleinen privilegierten Kaste blieb.

Aber in der Praxis konnte eine solche Gesellschaft nicht lange stabil bleiben. Denn wenn alle Menschen gleichermaßen in Muße und Sicherheit lebten, würde die große Masse der Menschen, die normalerweise aufgrund ihrer Armut verdummt ist, sich bilden und damit lernen, selbstständig zu denken; und wenn dies einmal geschehen wäre, würden sie früher oder später erkennen, dass die privilegierte Minderheit keine Funktion hatte, und sie würden sie hinwegfegen.

Auf lange Sicht war eine hierarchische Gesellschaft nur auf der Grundlage von Armut und Unwissenheit möglich. Eine Rückkehr in die agrarische Vergangenheit, wie sie sich einige Denker zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erträumt hatten, war keine praktikable Lösung.

Sie stand im Widerspruch zur Tendenz der Mechanisierung, die nahezu instinktiv fast auf der ganzen Welt eingesetzt hatte, und darüber hinaus war jedes Land, das industriell rückständig blieb, in militärischer Hinsicht hilflos und dazu verurteilt, direkt oder indirekt von seinen fortschrittlichen Rivalen beherrscht zu werden.

Es war auch keine befriedigende Lösung, die Massen durch die Drosselung der Warenproduktion in Armut zu halten. Dies war zu einem großen Teil während der Endphase des Kapitalismus, etwa zwischen 1920 und 1940, geschehen.

In vielen Ländern ließ man die Wirtschaft stagnieren, Land wurde nicht mehr bewirtschaftet, Investitionsgüter wurden nicht aufgestockt, große Teile der Bevölkerung wurden an der Arbeit gehindert und durch die staatliche Wohltätigkeit gerade noch am Leben erhalten.

Aber auch das brachte militärische Schwäche mit sich, und da die damit verbundenen Entbehrungen offensichtlich unnötig waren, entwickelte sich unvermeidlich eine Opposition.

Das Problem bestand darin, wie man die Räder der Industrie am Laufen halten konnte, ohne den realen Wohlstand der Welt zu vergrößern. Waren mussten produziert, durften aber nicht verteilt werden. Und in der Praxis war der einzige Weg, dies zu erreichen, die kontinuierliche Kriegsführung.

Der wesentliche Akt des Krieges ist die Zerstörung, nicht unbedingt von Menschenleben, sondern von den Produkten menschlicher Arbeit.

Krieg ist eine Art und Weise, Materialien in Stücke zu sprengen oder in die Stratosphäre zu jagen oder in den Tiefen des Meeres zu versenken, Materialien, die sonst dazu benutzt werden könnten, es den Massen zu bequem und diese damit auf lange Sicht zu intelligent zu machen.

Selbst wenn Kriegswaffen nicht wirklich zerstört werden, ist ihre Herstellung immer noch ein bequemes Mittel, um Arbeitskraft zu verbrauchen, ohne etwas zu produzieren, das verbraucht werden kann. In einer Schwimmenden Festung zum Beispiel steckt eine Arbeitsleistung, mit der man mehrere hundert Frachtschiffe bauen könnte. Am Ende wird sie als überholt verschrottet, ohne jemals irgendwem materiellen Nutzen gebracht zu haben, und mit einem erneuten enormen Arbeitsaufwand wird eine neue Schwimmende Festung gebaut.

Im Prinzip sind die Kriegsanstrengungen immer so geplant, dass sie jeden Überschuss aufzehren, der nach der Erfüllung der unerlässlichen Bedürfnisse der Bevölkerung noch vorhanden sein könnte. In der Praxis werden die Bedürfnisse der Bevölkerung immer unterschätzt, mit der Folge, dass eine chronische Knappheit der Hälfte aller lebenswichtigen Waren herrscht; dies wird jedoch als Vorteil gewertet.

Es ist eine ganz bewusste Politik, sogar die privilegierten Gruppen am Rande der Existenznot zu halten, denn ein allgemeiner Zustand der Knappheit steigert die Bedeutung kleiner Privilegien und vergrößert damit den Unterschied zwischen den einzelnen Gruppen. Gemessen am Lebensstandard des frühen zwanzigsten Jahrhunderts führt selbst ein Mitglied der Inneren Partei ein karges, arbeitsreiches Leben. Dennoch versetzen die wenigen Annehmlichkeit, die ein solches Mitglied genießt - die große, gut ausgestattete Wohnung, der bessere Stoff seiner Kleidung, die bessere Qualität seiner Speisen und Getränke und seines Tabaks, seine zwei oder drei Bediensteten, sein privates Auto oder sein Hubschrauber -‚ es in eine andere Welt als ein Mitglied der Äußeren Partei, und die Mitglieder der Äußeren Partei haben einen ähnlichen Vorteil im Vergleich zu den unterdrückten Massen, die wir "die Prolls" nennen.

Die soziale Atmosphäre gleicht der einer belagerten Stadt, in der der Besitz eines Klumpens Pferdefleisch den Unterschied zwischen Reichtum und Armut ausmacht. Und gleichzeitig lässt das Bewusstsein, sich im Krieg und damit in Gefahr zu befinden, die Übergabe aller Macht an eine kleine Kaste als natürliche, unvermeidliche Bedingung des Überlebens erscheinen.

Der Krieg leistet nicht nur, wie man sehen wird, die notwendige Zerstörung, sondern er erreicht dies in einer psychologisch akzeptablen Weise.

Im Prinzip wäre es ganz einfach, die überschüssige Arbeitskraft der Welt zu vergeuden, indem man beispielsweise Tempel und Pyramiden baut, Löcher gräbt und sie wieder zuschüttet oder sogar riesige Mengen an Waren produziert und diese dann in Brand steckt. Aber dies würde nur die wirtschaftliche und nicht die emotionale Basis für eine hierarchische Gesellschaft schaffen.

Es geht hier nicht um die Moral der Massen, deren Einstellung unwichtig ist, solange sie ständig bei der Arbeit gehalten werden, sondern um die Moral der Partei selbst. Selbst vom einfachsten Parteimitglied wird erwartet, dass es kompetent, fleißig und innerhalb enger Grenzen sogar intelligent ist, aber es ist auch notwendig, dass es ein leichtgläubiger und ignoranter Fanatiker ist, dessen vorherrschende Stimmungen Angst, Hass, Verherrlichung und orgiastischer Triumph sind.

Mit anderen Worten, es ist notwendig, dass es eine dem Kriegszustand angemessene Mentalität hat. Es spielt keine Rolle, ob der Krieg tatsächlich stattfindet, und da kein entscheidender Sieg möglich ist, spielt es auch keine Rolle, ob der Krieg gut oder schlecht verläuft. Es ist lediglich erforderlich, dass ein Kriegszustand existiert.

Die Bewusstseinsspaltung, die die Partei von ihren Mitgliedern verlangt und die in einer Kriegsatmosphäre leichter zu erreichen ist, ist heute fast selbstverständlich, aber je höher man im Rang aufsteigt, desto ausgeprägter wird sie.

Gerade in der Inneren Partei sind Kriegshysterie und Feindeshass am stärksten ausgeprägt. In seiner Eigenschaft als Verwaltungsleiter muss ein Mitglied der Inneren Partei oft wissen, dass diese oder jene Kriegsnachricht nicht wahrheitsgemäß ist, und es mag sich oft bewusst sein, dass der gesamte Krieg fingiert ist und entweder nicht stattfindet oder zu ganz anderen als den erklärten Zwecken geführt wird; aber dieses Wissen lässt sich durch die Technik des ZWIEDENK leicht neutralisieren. Mittlerweile schwankt kein Mitglied der Inneren Partei für einen Augenblick in seinem mystischen Glauben, dass der Krieg real ist und dass er siegreich enden wird, mit Ozeanien als dem unbestrittenen Herrscher über die ganze Welt.

Alle Mitglieder der Inneren Partei glauben an diesen kommende Sieg als einen Glaubenssatz. Der Sieg soll entweder durch die allmähliche Eroberung immer weiterer Gebiete und den damit verbundenen Aufbau einer überwältigenden Machtüberlegenheit oder durch die Entdeckung einer neuen und unschlagbaren Waffe errungen werden. Die Forschung nach neuen Waffen geht unaufhörlich weiter und ist eine der wenigen verbleibenden Aktivitäten, in denen der Erfinder- oder Forschergeist ein Ventil finden kann. Im heutigen Ozeanien hat die Wissenschaft im althergebrachten Sinne fast aufgehört zu existieren.

In Neusprech gibt es kein Wort für "Wissenschaft". Die empirische Denkmethode, auf der alle wissenschaftlichen Errungenschaften der Vergangenheit beruhten, widerspricht den fundamentalsten Prinzipien des Engsoz. Und selbst der technologische Fortschritt findet nur dann statt, wenn seine Produkte in irgendeiner Weise zur Einschränkung der menschlichen Freiheit verwendet werden können.

In allen nutzbringenden Künsten steht die Welt entweder still oder läuft rückwärts. Die Felder werden mit Pferdepflügen bestellt, während die Bücher von Maschinen geschrieben werden. Aber in lebenswichtigen Bereichen - womit im Grunde genommen Krieg und Polizeispionage gemeint sind - wird der empirische Ansatz nach wie vor gefördert oder zumindest toleriert. Die beiden Ziele der Partei sind die Eroberung der gesamten Erdoberfläche und die endgültige Auslöschung jeder Möglichkeit des unabhängigen Denkens.

Infolgedessen gibt es zwei große Probleme, die die Partei zu lösen versucht.

Das eine ist, wie man die Gedanken eines anderen Menschen gegen dessen Willen lesen kann, und das andere ist, wie man in wenigen Sekunden mehrere Hundert Millionen Menschen ohne Vorwarnung töten kann.

Soweit die wissenschaftliche Forschung noch andauert, ist dies ihr Gegenstand. Der Wissenschaftler von heute ist entweder eine Mischung aus Psychologe und Inquisitor, der mit außerordentlicher Genauigkeit die Bedeutung von Mimik, Gestik und Stimmlage studiert und die wahrheitsfördernde Wirkung von Drogen, Elektroschocktherapie, Hypnose und körperlicher Folter erprobt; oder er ist Chemiker, Physiker oder Biologe, der sich nur mit den Zweigen seines Spezialgebietes befasst, die für die Vernichtung von Leben relevant sind.

In den riesigen Laboratorien des Ministeriums für Frieden und in den verborgenen Versuchsstationen in den brasilianischen Wäldern, in der australischen Wüste oder auf verlorenen Inseln der Antarktis sind die Expertenteams unermüdlich am Werk. Einige beschäftigen sich lediglich mit der logistischen Planung zukünftiger Kriege, andere entwickeln immer größere Raketenbomben, immer stärkere Sprengstoffe und immer undurchdringlichere Panzerungen, wieder andere suchen nach neuen und tödlicheren Gasen oder nach löslichen Giftstoffen, die in solchen Mengen produziert werden können, dass sie die Vegetation ganzer Kontinente zerstören können, manche forschen nach Krankheitserregern, die gegen alle möglichen Antikörper immun sind; andere versuchen sich an der Entwicklung eines Fahrzeugs, das sich unter der Erde wie ein U-Boot im Wasser bewegen soll, oder nach einem Flugzeug, das von seinem Stützpunkt so unabhängig ist wie ein Segelschiff; andere erforschen noch ausgefallenere Möglichkeiten wie die Bündelung der Sonnenstrahlen durch Linsen, die Tausende von Kilometern entfernt im Weltraum schweben, oder die Erzeugung künstlicher Erdbeben und Flutwellen durch das Anzapfen der Hitze im Erdinneren.

Aber keines dieser Projekte kommt jemals auch nur annähernd zur Verwirklichung, und keiner der drei Superstaaten erlangt jemals einen nennenswerten Vorsprung gegenüber den anderen. Noch bemerkenswerter ist, dass alle drei Mächte mit der Atombombe bereits eine Waffe besitzen, die weitaus mächtiger ist als alle Waffen, die ihre gegenwärtigen Forschungen wahrscheinlich entdecken werden.

Obwohl die Partei ihrer Gewohnheit entsprechend die Erfindung für sich beansprucht, tauchten die ersten Atombomben bereits in den Vierzigerjahren auf und wurden etwa zehn Jahre später erstmals in großem Maßstab eingesetzt. Zu dieser Zeit wurden einige Hundert Bomben auf Industriezentren abgeworfen, vor allem im europäischen Russland, in Westeuropa und Nordamerika.

Dies hatte zur Folge, dass die herrschenden Gruppen aller Länder davon überzeugt wurden, dass ein paar mehr Atombomben das Ende der organisierten Gesellschaft und damit ihrer eigenen Macht bedeuten würden.

Danach wurden, obwohl nie ein formelles Abkommen getroffen oder angeregt wurde, keine weiteren Atombomben abgeworfen. Alle drei Mächte produzieren dennoch weiterhin Atombomben und lagern sie für die entscheidende Gelegenheit ein, von der sie alle glauben, dass sie früher oder später kommen wird.

Und inzwischen ist die Kriegskunst dreißig oder vierzig Jahre so gut wie zum Stillstand gekommen. Hubschrauber werden zwar öfter eingesetzt als früher, Bomberflugzeuge sind weitgehend durch Projektile mit Selbstantrieb ersetzt worden, und das zerbrechliche bewegliche Schlachtschiff ist der fast unsinkbaren Schwimmenden Festung gewichen; aber ansonsten hat es kaum Entwicklung gegeben.

Der Panzer, das U-Boot, der Torpedo, das Maschinengewehr, sogar das Gewehr und die Handgranate sind immer noch in Gebrauch. Und trotz der endlosen Gemetzel, über die in der Presse und auf den Teleschirmen berichtet wird, haben sich die verzweifelten Schlachten früherer Kriege, in denen oft Hunderttausende oder sogar Millionen von Männern in wenigen Wochen getötet wurden, nie wiederholt.

Keiner der drei Superstaaten unternimmt je ein Manöver, das die Gefahr einer ernsten Niederlage in sich birgt. Wenn eine große Operation durchgeführt wird, handelt es sich in der Regel um einen Überraschungsangriff gegen einen Verbündeten.

Die Strategie, die alle drei Mächte verfolgen oder vorgeben zu verfolgen, ist die gleiche. Der Plan besteht darin, durch eine Kombination aus Kampfhandlungen, Verhandlungen und perfekt getakteten Verratsmaßnahmen einen Ring von Stützpunkten zu schaffen, der den einen oder anderen rivalisierenden Staat vollständig einschließt, und dann mit diesem Rivalen einen Freundschaftspakt zu unterzeichnen und in Folge viele Jahre lang friedliche Beziehungen zu ihm zu unterhalten, sodass jeglicher Argwohn einschläft.

Während dieser Zeit können an allen strategischen Punkten mit Atombomben bestückte Raketen stationiert werden, die schließlich alle gleichzeitig abgefeuert werden und solche verheerenden Auswirkungen haben, dass ein Vergeltungsschlag unmöglich wird. Dann ist es an der Zeit, einen Freundschaftspakt mit der verbleibenden Weltmacht zu unterzeichnen, um einen neuerlichen Angriff vorzubereiten.

Dieser Plan ist, was wohl kaum erwähnt werden muss, ein unmöglich zu verwirklichender Wunschtraum.

Darüber hinaus finden keinerlei Kampfhandlungen außerhalb der umstrittenen Gebiete um den Äquator und den Pol statt; es wird niemals eine Invasion in feindliches Gebiet unternommen. Dies erklärt die Tatsache, dass an einigen Orten die Grenzen zwischen den Superstaaten willkürlich sind. Eurasien könnte zum Beispiel leicht die Britischen Inseln erobern, die geografisch zu Europa gehören, andererseits könnte Ozeanien seine Grenzen bis zum Rhein oder sogar bis zur Weichsel verschieben. Dies würde jedoch gegen das von allen Seiten befolgte, wenn auch nie formulierte Prinzip der kulturellen Integrität verstoßen.

Würde Ozeanien die Gebiete erobern, die einst Frankreich und Deutschland hießen, müsste man entweder die Einwohner ausrotten - eine physisch sehr schwer zu bewältigende Aufgabe - oder eine Bevölkerung von etwa hundert Millionen Menschen assimilieren, die sich, was die technische Entwicklung betrifft, ungefähr auf dem Niveau Ozeans befindet.

Das Problem ist für alle drei Superstaaten das gleiche. Für ihre Struktur ist es absolut notwendig, dass es zu keinem Kontakt mit Ausländern kommt, außer in einem begrenzten Umfang zu Kriegsgefangenen und farbigen Sklaven. Selbst der offizielle Verbündete des Augenblicks wird immer mit dem dunkelsten Argwohn betrachtet.

Abgesehen von den Kriegsgefangenen bekommt der Durchschnittsbürger Ozeaniens nie einen eurasischen oder ostasiatischen Bürger zu Gesicht, und Fremdsprachenkenntnisse sind ihm verboten. Würde man ihm den Kontakt mit Ausländern gestatten, würde er entdecken, dass sie ganz ähnliche Menschen sind wie er und dass das meiste, was man ihm über sie erzählt hat, Lügen sind.

Die abgeschottete Welt, in der er lebt, würde aufgebrochen, und die Angst, der Hass und die Selbstgerechtigkeit, von denen seine Moral abhängt, könnten sich verflüchtigen. Deshalb ist allen Seiten klar, dass, egal wie oft Persien oder Ägypten oder. Java oder Ceylon den Besitzer wechseln mögen, die Hauptgrenzen niemals von etwas anderem als Bomben überschritten werden dürfen.

Dem liegt eine nie laut ausgesprochene, sondern stillschweigend anerkannte und verhaltensrelevante Tatsache zugrunde: nämlich, dass die Lebensbedingungen in allen drei Superstaaten weitgehend gleich sind. In Ozeanien heißt die vorherrschende Philosophie Engsoz, in Eurasien Neo-BoIschewismus, und in Ostasien wird sie mit einem chinesischen Begriff ausgedrückt, der gewöhnlich mit Todeskult übersetzt wird, vielleicht aber treffender als "Auslöschung des eigenen Ichs" bezeichnet werden kann.

Der Bürger Ozeaniens darf nichts von den Lehren der beiden anderen Philosophien wissen, sondern man lehrt ihn, sie als barbarischen Frevel an der Moral und dem gesunden Menschenverstand zu verachten. In Wirklichkeit unterscheiden sich die drei Philosophien kaum, und die Gesellschaftssysteme, die sie unterstützen, sind überhaupt nicht unterscheidbar. Überall gibt es die gleiche pyramidenförmige Struktur, die gleiche Verehrung des halbgöttlichen Führers, die gleiche Wirtschaft, die durch und für die kontinuierliche Kriegsführung existiert.

Daraus folgt nicht nur, dass sich die drei Superstaaten nicht gegenseitig erobern können, sondern dass sie auch keinen Vorteil daraus ziehen würden. Im Gegenteil, solange sie sich im Konflikt miteinander befinden, stützen sie sich gegenseitig wie drei aneinandergelehnte Getreidegarben. Und wie üblich sind sich die herrschenden Gruppen aller drei Mächte dessen, was sie tun, gleichzeitig bewusst und unbewusst. Ihr Leben ist der Eroberung der Welt gewidmet, aber sie wissen auch, dass es notwendig ist, dass der Krieg ewig und ohne Sieg weitergeht. Gleichzeitig ermöglicht die Tatsache, dass KEINE Eroberungsgefahr besteht, die Verleugnung der Realität, die das besondere Merkmal des Engsoz und seiner rivalisierenden Denksysteme ist. An dieser Stelle muss wiederholt werden, was bereits gesagt wurde: dass der Krieg dadurch, dass er zu einem Dauerzustand wurde, seinen Charakter grundlegend verändert hat.

In früheren Zeiten war ein Krieg, fast der Definition nach, etwas, das früher oder später zu einem Ende kam, in der Regel durch einen eindeutigen Sieg oder eine Niederlage. In der Vergangenheit war der Krieg auch eines der Hauptinstrumente, durch das menschliche Gesellschaften mit der physischen Realität in Kontakt blieben. In allen Zeitaltern haben die Herrscher versucht, ihren Anhängern ein falsches Weltbild aufzuzwingen, doch sie konnten es sich nicht leisten, irgendeine Illusion zu fördern, die die militärische Leistungsfähigkeit zu beeinträchtigen drohte.

Solange eine Niederlage den Verlust der Unabhängigkeit oder ein anderes Ergebnis, das allgemein als unerwünscht angesehen wurde, mit sich brachte, mussten ernsthafte Vorkehrungen gegen eine Niederlage getroffen werden. Man durfte greifbare Tatsachen nicht ignorieren. In der Philosophie, Religion, Ethik oder Politik mochten ja zwei plus zwei fünf ergeben, aber wenn man ein Geschütz oder ein Flugzeug konstruierte, musste zwei plus zwei gleich vier sein.

Ineffiziente Nationen wurden früher oder später immer erobert, und das Ringen um Leistungsfähigkeit erlaubte keine Illusionen. Um effizient zu sein, war es zudem notwendig, aus der Vergangenheit lernen zu können, was bedeutete, eine ziemlich genaue Vorstellung davon zu haben, was in der Vergangenheit geschehen war.

Zeitungen und Geschichtsbücher waren natürlich immer politisch gefärbt und parteiisch, aber eine Fälschung, wie sie heute praktiziert wird, wäre unmöglich gewesen. Der Krieg war ein Sicherungsgarant für Vernunft, und in Bezug auf die herrschenden Klassen war er wahrscheinlich die wichtigste Sicherheitsmaßnahme überhaupt. Solange Kriege gewonnen oder verloren werden konnten, konnte nämlich keine herrschende Klasse völlig verantwortungslos handeln.

Aber wenn der Krieg buchstäblich zum Dauerzustand wird, hört er auch auf, gefährlich zu sein. Wenn der Krieg ununterbrochen andauert, dann besteht so etwas wie eine militärische Notwendigkeit auch nicht mehr.

Der technische Fortschritt kann zum Stillstand kommen, und die greifbarsten Tatsachen können geleugnet oder missachtet werden. Wie wir gesehen haben, werden Forschungen, die man als wissenschaftlich bezeichnen könnte, immer noch zu Kriegszwecken durchgeführt, aber sie sind im Grunde genommen nicht mehr als Hirngespinste, die Tatsache, dass sie keine Ergebnisse zeigen, ist irrelevant.

Effizienz, selbst militärische Effizienz, ist nicht mehr nötig. In Ozeanien ist nichts effizient, außer der Gedankenpolizei. Da jeder der drei Superstaaten unbezwingbar ist, ist jeder praktisch gesehen ein Universum für sich, in dem fast jede Perversion des Denkens gefahrlos praktiziert werden kann.

Die Wirklichkeit übt dabei durch die alltäglichen Lebensbedürfnisse Druck aus - das Bedürfnis, zu essen und zu trinken, eine Unterkunft zu haben und Kleidung zu bekommen, es zu vermeiden, sich zu vergiften oder aus einem Dachfenster zu fallen - und so weiter.

Zwischen Leben und Tod und zwischen körperlichem Wohlbehagen und körperlichem Schmerz besteht immer noch ein Unterschied, aber das ist auch schon alles. Abgeschnitten vom Kontakt mit der Außenwelt und mit der Vergangenheit gleicht der Bürger Ozeaniens einem Menschen im interstellaren Raum, der keine Möglichkeit hat zu unterscheiden, in welcher Richtung oben oder unten ist. Die Herrscher eines solchen Staates sind so absolut, wie es die Pharaonen oder die Cäsaren nicht sein konnten. Sie müssen verhindern, dass ihre Gefolgsleute in zu großer und somit ungünstiger Zahl verhungern, und sie müssen darauf achten, das gleiche niedrige Niveau militärischer Technik aufrechtzuerhalten wie ihre Rivalen; aber sobald dieses Minimum erfüllt ist, können sie die Realität in jede von ihnen gewünschte Richtung verdrehen.

Nach den Maßstäben früherer Kriege beurteilt, ist dieser Krieg also lediglich ein Schwindel. Er ist vergleichbar mit den Kämpfen zwischen bestimmten Wiederkäuern, deren Hörner so schräg gewachsen sind, dass sie sich nicht gegenseitig verletzen können. Aber obwohl er unecht ist, so ist er nicht bedeutungslos. Er verschlingt den Überschuss an Konsumgütern und trägt dazu bei, die besondere geistige Atmosphäre zu erhalten, die eine hierarchische Gesellschaft braucht.

Krieg, so wird man sehen, ist heute eine rein interne Angelegenheit. In der Vergangenheit kämpften die herrschenden Gruppen aller Länder gegeneinander, auch wenn sie vielleicht ihr gemeinsames Interesse erkannten und deshalb die Zerstörungskraft des Krieges in Grenzen halten konnten, und der Sieger plünderte grundsätzlich den Besiegten aus.

Heutzutage kämpfen sie überhaupt nicht mehr gegeneinander. Der Krieg wird heute von jeder herrschenden Gruppe gegen ihre eigenen Untertanen geführt, und das Ziel des Krieges besteht nicht darin, Gebietseroberungen zu erzielen oder zu verhindern, sondern die Gesellschaftsstruktur intakt zu halten.

Schon das Wort "Krieg" ist daher irreführend geworden. Wahrscheinlich wäre es richtig zu sagen, dass der Krieg dadurch, dass er ein Dauerzustand geworden ist, nicht mehr existiert. Der charakteristische Druck, den er zwischen der Jungsteinzeit und dem frühen zwanzigsten Jahrhundert auf die Menschen ausgeübt hat, ist verschwunden und durch etwas ganz anderes ersetzt worden.

Der Effekt wäre ungefähr der gleiche, wenn die drei Superstaaten, statt einander zu bekämpfen, vereinbaren würden, in dauerhaftem Frieden zu leben, wobei jeder innerhalb seiner eigenen Grenzen unantastbar wäre. Denn in diesem Fall wäre jeder immer noch ein in sich geschlossenes Universum, das für immer vom ernüchternden Einfluss einer äußeren Bedrohung befreit wäre.

Ein wirklich dauerhafter Frieden wäre das Gleiche wie ein permanenter Krieg. Dies ist - obwohl die überwiegende Mehrheit der Parteimitglieder sie nur in einem oberflächlicheren Sinne versteht - die innere Bedeutung der Parteiparole: KRIEG IST FRIEDEN.


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 16.01.2023 - 16:54